"Schwebezustand"
Malerei, Collage, Zeichnung von Mathias Roloff und Robert Stieghorst
Der Ratskeller im historischen Rathaus an der Möllendorffstraße 6 wurde denkmalsgerecht saniert. Er wird heute für Ausstellungen und Kulturveranstaltungen, Konzerte, Lesungen, Diskussionsrunden und Vorträge genutzt. Als Ausstellungsraum für zeitgenössische Kunst zeigt die Galerie Gruppen- und Einzelausstellungen sowie Themenausstellungen.
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Eröffnungsrede von Anne Simone Krüger (hier als PDF)
Mathias Roloff – Robert Stieghorst: Schwebezustand. Oder die unendliche Geschichte des Möglichen.
Der „Schwebezustand“ ist laut Duden ein Zustand der Unklarheit, der Unsicherheit, der Unentschiedenheit. Wenn etwas in der Schwebe ist, dann ist es nicht fest definiert, potentiell ist alles möglich. Die Arbeiten von Mathias Roloff und Robert Stieghorst kreisen um genau diesen zentralen Kern des Optionalen und Variablen. Beide Künstler schaffen Werke, die sich durch offene Bildinhalte auszeichnen. Sie präsentieren uns keine klaren, eindeutig formulierten Botschaften. Stattdessen werden wir als Betrachter immer wieder vor Rätsel gestellt, mit motivischen Konstellationen konfrontiert, die irritieren, nicht eindeutig sind und deshalb umso faszinierender. Jeder von uns wird diese Ausstellung mit anderen Geschichten im Kopf verlassen, da er die Bilder auf seine subjektive Weise deutet und eine andere Erklärung für das Geschehen im Bild findet – geprägt durch seinen je individuellen Erfahrungsschatz, den er seiner Rezeption zugrunde legt. So ist diese Ausstellung eine unendliche Geschichte, die aus traumhaft surrealen Szenarien gespeist wird.
„Das bereits Wirkliche ist von einem Meer von Möglichkeiten umgeben, und immer wieder, immer noch steigt aus diesem Meer ein neues Stück Wirklichkeit auf (...).“[1] schreibt der Philosoph Ernst Bloch (1885-1977). Damit steht er programmatisch für die Aufbruchszeit der 60er Jahre, welche das Thema der Möglichkeit als alternative Denkfigur propagiert und sich in der Philosophie, der Literatur und der Kunst intensiv damit beschäftig. Gerade die Künstler dieser Zeit sind fasziniert davon, dass die kalkulierte Unbestimmtheit zahlreiche Optionen und Zugangsebenen anbietet. Noch viel wichtiger ist ihnen jedoch, dass sie mit genau dieser Offenheit den Betrachter aktivieren und an der Kunst teilhaben lassen können.[2] Denn offene Werke fordern einen offenen Betrachter der sich auf die Arbeiten einlässt, sie mitdenkt und weiterdenkt. Die Künstler erkennen die Möglichkeit der „unbegrenzten und variablen, unendlichen und unbestimmten Produktion von Inhalt“[3] und reizen diese in Malerei und Skulptur aus.
In der Tradition dieser Faszination für das Mögliche, fertigen Mathias Roloff und Robert Stieghorst nun Arbeiten, die den Schwebezustand zeitgenössisch betrachten und hinterfragen. Sie haben ihren je eigenen, äußerst individuellen künstlerischen Ausdruck, der immer wieder überrascht. Beide haben an der Universität der Künste in Berlin studiert, dort als Meisterschüler abgeschlossen und dann Ateliers in Berlin Lichtenberg bezogen. Und beide haben ihren je eigenen künstlerischen Weg gefunden, der formal so unterschiedlich ist und doch inhaltliche Parallelen aufweist.
Malerei und Zeichnung sind die Medien, in denen Mathias Roloff arbeitet. Seine Ölbilder präsentieren uns eine ganze Palette an Schwebezuständen. In Invasion I und II sind es Fischr die wie Regentropfen über einer Landschaft schweben, welche zeitlos und ortlos erscheint. Die Vermutung liegt nahe, dass es sich hier um eine Phantasie des Künstlers handelt. Tatsächlich malt Mathias Roloff seine Bilder stets aus dem Kopf – ohne Vorlage und mit der Idee, dass sie eher eine innere Verfassung, einen Subtext transportieren sollen. Werke wie Salomé oder Versuch der Bändigung zeigen dies eingängig: hier geht es um Bewegungen, Handlungen, Gefühle. Obwohl wir sie nur in fragmentarischen Gesten sehen drücken die Bilder doch eine je eigene subtile Stimmung aus. Gleichzeitig sind sie zeitlos: Der Moment ist wie eingefroren, die Körper wie auch die Weintrauben scheinen sich dynamisch zu bewegen und gleichzeitig auf der Stelle zu verharren. Was geschieht hier? Und wer ist beteiligt? Die Körperfragmente lassen nur eine angedeutete Ahnung der Protagonisten aufkommen– die Situation bleibt offen, rätselhaft.
Weniger bewegt aber ebenso in einem Zwischenzustand angesiedelt sind Arbeiten wie Kleine Anordnung IV und V: in der Tradition der niederländischen Vanitas-Darstellungen des 17. Jahrhunderts handelt es sich um ein Memento Mori, eine Anspielung darauf, dass alles endlich und das Leben ein Schwebezustand zwischen Geburt und Tod ist. Die Messer, die der Künstler hier höchst präsent im Bild platziert, entbehren allerdings der Tradition. Sie verleihen den Arbeiten eine mysteriöse Atmosphäre. Extrem akkurat sind sie im Bild platziert und irritieren trotz ihrer ordentlichen symmetrischen Anordnung ungemein. Die außergewöhnliche Zusammenstellung der Sujets lässt hier eine Art surrealen Neo-Barock entstehen. Die höchst ambivalenten Bilder haben eine eigenwillige Anziehungskraft: einerseits schreckt das groteske Szenario ab, andererseits fasziniert es und hält den Blick gefangen. Wohl nicht zuletzt auch aufgrund der Tatsache, dass lediglich das Motiv irritiert – die Malweise dagegen, die Technik kommt klassisch altmeisterlich daher. Mathias Roloff arbeitet bewusst mit klassischen Maltechniken, die er gekonnt umsetzt. Besonders die Lasurmalerei, ein extrem aufwändiges Unterfangen, bei welchem akribisch eine Lasur über die andere gelegt wird, wobei die einzelnen Arbeitsschritte von Trocknungsphasen unterteilt sind, erzeugt eine unglaubliche stoffliche Wirkung. Man meint ins Bild hineingreifen zu können – die Farbe hat eine derartige Präsenz, dass selbst der banalsten Szene eine beeindruckende Ausstrahlung innewohnt. So bieten die Malereien dem Betrachter Welten mit eigenen Regeln, mit schwebenden, offenen Kausalitäten – zeitlose Universen, die zum Verweilen und sich darin Verlieren einladen.
Die Zeichnungen von Mathias Roloff sind genauso uneindeutig und vielfältig interpretierbar wie seine Malerei– sie haben formal eine offene Struktur, welche bedingt ist durch die nur angedeuteten Binnenzeichnungen der Gestalten und den Strich, der nicht stringent erscheint, sondern sich durch offene, tastende Linien auszeichnet. Atmosphärisch rätselhaft sind auch die mit weißer Gouache über die Zeichnungen gesetzten, wie Nebelbänke wirkenden Flächen, die das Geschehen seltsam entrücken.
Entrückt geht es auch bei Robert Stieghorst zu. Immer wieder ist der Weltraum Schauplatz der Werke, der Schwebezustand wird hier nun auch ein physikalischer, wird Gravitation oder Gravitationslosigkeit. In Fishing for a dream sehen wir das, was wir als Erde kennen an einem Nachthimmel schweben, der einen großen Teil des Bildes einnimmt. Im Vordergrund steht ganz allein ein kleiner Junge der angelt. Ist er einsam oder findet er gerade, wie der Titel anklingen lässt, seinen großen Traum? In Mir/ omniscience medium ist der Hintergrund ebenfalls ein dunkler, mit Lichtpunkten übersäter Himmel. Davor schwebt ein seltsames Flugobjekt, das von den Konturen her eine Raumstation sein könnte, sich bei näherer Betrachtung jedoch aus vielen einzelnen Szenen zusammengeklebt erweist. Gänzlich disparate Elemente aus unterschiedlichsten Kontexten hat Robert Stieghorst hier akribisch mit dem Skalpell freigelegt und zu einem neuen Kontext zusammengefügt. Aus einzelnen Fragmenten entsteht auch hier – nicht ganz unähnlich der Malerei von Mathias Roloff – ein neues Ganzes. Nur dass dieses Neue geklebt wird. Mit faszinierender Akribie fügt Robert Stieghorst aus den ausgeschnitten Teilen ein neues Bild zusammen, welches wir in seiner neuen Existenz trotz der surrealen Atmosphäre niemals hinterfragen würden. Postmoderne Collagen könnte man diese Arbeiten wohl am treffendsten betiteln.
Die Collage an sich hat inzwischen eine knapp 100-jährige Tradition, die mit Picasso begann und unter den Dadaisten eine politische Dimension erlangte, von den Surrealisten fortgeführt wurde und bis heute faszinierende Werke hervorbringt. Interessant ist dabei, wie individuell jeder Künstler dieses vermeintlich einheitliche Medium benutzt. So haben auch Robert Stieghorsts Arbeiten ihren ganz eigenen Schnitt – denn von Pinselduktus lässt sich hier schwerlich sprechen. Die in dieser Ausstellung gezeigten Collagen weisen eine melancholisch-utopische Atmosphäre auf, der Inhalt der Arbeiten bleibt genauso offen wie der Versuch zu entschlüsseln, woher der Künstler seine Motive nimmt. Fakt ist jedoch, dass er einen ganz eigenen Kosmos kreiert, dessen Kausalitätsstränge nur schwer ergründbar sind. Die Szenarien der Arbeiten sind vieldeutig und offen und kreisen dennoch immer wieder um die gleichen Grundfragen menschlicher Existenz: Einsamkeit, Verlorenheit, Identität, vermutete Wahrheit, Traum und Wirklichkeit.
So liegt es an uns als Besuchern dieser Ausstellung den Schwebezustand auszuloten, in die Geschichte der Bilder einzutauchen, sie mitzudenken, weiterzudenken und sämtliche Möglichkeiten der Erzählungen durch zu deklinieren. „Wo sind wir, wenn wir im Bilde sind?“ nannte der Philosoph Natias Neutert seine Abhandlung über Differenziale der Eindbildungskraft[4] in welcher er die These aufstellt, dass wir bei der Betrachtung von Bildern stets zwischen Intuition und Intellekt hin- und herschwanken. In Bezug auf diese Ausstellung lässt sich vermutlich sagen: wir sind genau dort, wo die Künstler uns haben wollen. Im Bild, in der Geschichte, mittendrin im Schwebezustand.
Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Schweben und beim Eintauchen
Anne Simone Krüger, Kunsthistorikerin
[1] Ernst Bloch: Tübinger Einleitung in die Philosophie, Frankfurt 1963, S.234.
[2] Vgl. Möglichkeit – Petra Reichensperger: In: Kunst <-> Begriffe der Gegenwart. Von Allegorie bis Zip. hrsg. von Jörn Schafaff, Nina Schallenberg und Tobias Vogt, Walther König, Köln 2013, S. 185ff.
[3] Ebd.
[4] Natias Neutert: Wo sind wir, wenn wir im Bilde sind? Über Differenziale der Einbildungskraft. Hamburg 2014.
[1] Ernst Bloch: Tübinger Einleitung in die Philosophie, Frankfurt 1963, S.234.
[2] Vgl. Möglichkeit – Petra Reichensperger: In: Kunst <-> Begriffe der Gegenwart. Von Allegorie bis Zip. hrsg. von Jörn Schafaff, Nina Schallenberg und Tobias Vogt, Walther König, Köln 2013, S. 185ff.
[3] Ebd.
[4] Natias Neutert: Wo sind wir, wenn wir im Bilde sind? Über Differenziale der Einbildungskraft. Hamburg 2014.
Informationen
11. Juli 2017 bis 01. September 2017
Veranstaltungsort:
rk - Galerie für zeitgenössische Kunst im Ratskeller,
Ausstellungsort auf der Karte: